Gefühlsecht

In den letzten Monaten habe ich dank der Therapie immer mehr Klarheit darüber bekommen, wo die Ursachen für die Unzufriedenheit liegen, die mein Leben so lange bestimmt hat. Meine Unzufriedenheit war ja v.a. dadurch geprägt, dass ich mich nicht erfüllt genug gefühlt habe und ich speziell bei der Arbeit  immer auf den Zeitpunkt gewartet habe, dass endlich das große Feuerwerk losgeht. Dabei hat mir eine Stimme in meinem  Kopf natürlich immer wieder gesagt, dass ich doch bereits genug im Leben hätte, um zufrieden zu sein und mich erfüllt zu fühlen. Doch egal wie sehr ihr mich angestrengt hatte, ich bin nicht dahintergekommen, wo ich mir selber so im Weg stehe.

Ursprüngliche Bildquelle: Jakob Ehrhardt / pixelio.de 


Das Gefühlspektrum vollständig zulassen
In den Gesprächen mit meiner Therapeutin kam ich dann vor einiger Zeit an einen Knackpunkt, der mich selber völlig überrascht hat: Ich habe wirklich Schwierigkeiten damit, Gefühle in ihrem vollen Ausmaß zuzulassen. Warum mich diese Erkenntnis anfangs richtig erschüttert hat? Weil ich mich selbst nicht als gefühlskalten oder nicht mitfühlenden Menschen gesehen hatte. Im Gegenteil: Ich hatte mich eher als manchmal etwas zu emotionalen Menschen gesehen. Aber gleichzeitig habe ich sofort gespürt, dass da wirklich was dran ist. Wenn wir in den Sitzungen über Situation sprechen, die für mich komisch, unangenehm oder merkwürdig waren, dann fällt es mir oft schwer, genauer auszudrücken, was ich da wirklich gefühlt habe: Freude, Neid, Mitleid, Verbundenheit, Stolz, Ärger, Mitgefühl, Spaß – ich nehme die Gefühle meist nur oberflächlich wahr und dann verschwimmen sie in etwas unkonkretes, das ich dann nur als “merkwürdig” oder “faszinierend” bezeichnen kann.


Fakt ist jedoch: Die Gefühle sind das, was das Leben lebendig macht!
Ohne sie ist es grau und leblos, mit ihnen ist es bunt und aufregend. Und wie in einem Regenbogen alle Farben des Farbspektrums zu sehen sind, gehören auch alle Gefühle zu uns – die schönen und die unangenehmen. Wenn ich die unangenehmen Gefühle wie Wut oder Neid nicht so stark spüren möchte, dann verhindere ich eben auch, dass ich die schönen wie Freude und Verbundenheit vollständig fühlen kann.

Seit diese Erkenntnis bei mir ihren Weg von der Verstands- auf die Gefühlsebene gemacht hat, konnte ich richtig beobachten, wie viel ausgefüllter ich mich fühlte. Auf einmal war da so viel, das gefühlt werden wollte! Und dazu braucht es gar keine großen Feuerwerke oder andere Dramen, der normale Alltag reicht dafür schon aus. Das war für mich schon ein riesiger Schritt, über den ich mich wahnsinnig gefreut habe! Wobei ich natürlich immer noch merke, dass ich da noch einiges an Arbeit vor mir habe, denn auf der Gefühlsoberfläche zu bleiben ist mein gewohntes Umfeld. Was mich außerdem vor eine neue Herausforderung stellt, sind Gefühle, die mir oft sehr widersprüchlich erscheinen. Ich habe mich z.B. riesig über den Umzug in die eigenen vier Wände und hätte es am liebsten nur bei diesem schönen Gefühl belassen. Doch war da natürlich auch Traurigkeit über den Abschied aus der Wohnung, die acht Jahre lang unser Zuhause gewesen ist – diese Gefühle hätte ich lieber ausgelassen, doch waren sie natürlich da. Und ich bin jetzt so froh darüber, dass ich bewusst Abschied nehmen konnte und die letzten Wochen im alten Zuhause nicht nur dauergenervt “rumgebracht” hatte, in der Hoffnung, dass in der neuen Wohnung eh alles viel besser wird. Auch bei meinem Autounfall im Januar war ich von widersprüchlichen Gefühlen geplagt: Der Schock darüber, wie es sich angefühlt hat, die Kontrolle über das Auto zu verlieren, saß anfangs richtig tief und hat erst nach und nach der Erleichterung darüber Platz gemacht, dass mir nichts passiert ist und ich dann doch schnell ein neues Auto hatte. Auch hier hätte ich den Schock gerne schneller übersprungen und wäre gleich zur Erleichterung übergegangen – so wie ich sie auch von den Menschen in meinem Leben erfahren habe, die über den glimpflichen Ausgang natürlich natürlich sehr erleichtert waren.

Gefühle lassen sich nicht steuern, entwickeln sich aber weiter
So ist es nicht nur bei den großen Ereignissen im Leben: Wie erleben diese teils widersprüchlichen Gefühle im ganz normalen Alltag, aber ich finde es schon schwer das alles immer zuzulassen. Mir fällt es v.a. dann schwer, wenn ich den Eindruck habe, dass meine Gefühle vielleicht nicht angebracht sein könnten. Ich gestehe mir nicht so gerne ein, dass ich z.B. schadenfroh oder auf jemanden neidisch bin. Und wenn, wie bei meinem Unfall, alle mit Erleichterung reagieren, ich mich aber gerade mega darüber ärgere, dass mein Auto Schrott ist, bin ich mir meiner Gefühle auch sehr unsicher. Dann höre ich eine kleine Mädchenstimmen in meinem Kopf, die trotzig sagt: “Ich will mich aber ärgern! Lasst mir doch einfach meinen Ärger!”
Wir können aber nicht steuern, wann wir welche Gefühle haben und in welcher Reihenfolge wir sie spüren. Unsere einzige Sicherheit ist, dass uns das gesamte Gefühlsspektrum zur Verfügung steht und wir es meist auch immer komplett ausschöpfen. Natürlich geht’s mal mehr in Richtung schöne Gefühle, mal mehr in Richtung unangenehme Gefühle und manchmal durchlebt man einfach alle Gefühle. Dieses Auf und Ab als “normal” zu akzeptieren und nicht als gut oder schlecht zu bewerten, sondern es einfach wahrzunehmen und zu beobachten, wie sich die Gefühle weiterentwickeln – das wird für mich auch weiterhin noch eine Herausforderung sein.

Deswegen tut es mir gut, hier darüber zu schreiben, damit ich mir in den Phasen, wo ich von meinen Gefühlen mal wieder durchgewirbelt werde, in Erinnerung rufen kann, dass das alles ok ist und das Leben dank der Gefühle viel zufriedenstellender und “reichhaltiger” ist.

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